Auswahl der Auskunftgebenden
Qualitative Studien unterstützen das Ausloten sozialer Phänomene und führen zu Hypothesen und Theorien; je unterschiedlicher die erfassten gelebten Möglichkeiten sind, desto gehaltvoller die Ergebnisse.
Für generelle Aussagen über soziale Phänomene wären quantitative Methoden und Repräsentativität der Informationspersonen vorausgesetzt.
So muss bei «ältertätig» die Gruppe von Informationspersonen grösstmögliche Diversität aufweisen.
Merkmale der Informationspersonen
Ausgewählt wurden Personen über 70, hälftig Frauen und Männer, die verbindlich (verantwortlich, regelmässig, mit Entwicklungsperspektive) engagiert ausserhalb der Familie tätig sind, gegen Lohn oder ehrenamtlich.
Im Besonderen legt das Projekt Wert auf grösstmögliche Diversität bezüglich
- Tätigkeitsfeldern (Kopf, Herz, Hand) und organisatorischen Strukturen
- geografischem Raum; städtischem oder ländlichem Kontext
- Herkunft, sozialem Milieu
- Ausbildung (Thema und Schulniveau)
- Einbettung in kleine soziale Netze, familiärer Situation
- Entwicklungen und Etappen hin zum aktuellen Engagement
Methodisch ist diese Vielfalt unerlässlich, doch sie gewährleistet noch keine grossen Differenzen im Erleben und Erzählen der Informationspersonen.
Narratives Interview
Das narrative Interview ist eine Befragungsform, in der eine Auskunftsperson auf eine Eingangsfrage oder einen Impuls ohne lange Einführung ins Forschungsprojekt, ohne Zwischenbemerkungen und Unterbrechung ausführlich antworten kann. Es dient dem Erfassen von Situationsbeschreibungen, Abläufen, Befindlichkeiten, Handlungsfolgen usw., an denen die auskunftgebende Person selbst beteiligt war oder deren Ursprung sie ist.
Anfang, Verlauf und Endpunkt setzen die Befragten selbst. Sie sind es, die die Narration strukturieren. Dadurch wird eine grosse Offenheit für die Aussagen, Bedeutungen und Deutungen der Informanten erreicht und der Einfluss der Interviewenden minimiert.
Der Zeitbezug narrativer Interviews ist retrospektiv oder gegenwartsbezogen. Die Frageformulierung ist so gestaltet, dass konkrete zeitliche oder situative Anknüpfungen es der Informationsperson erleichtern, Erlebnisse oder Situationen zu vergegenwärtigen und zu berichten.
Narrative Interviews rekonstruieren Situationen und Handlungen und sind in der Biografieforschung zentral.
Ein bisschen Erzähltheorie
Die Methode des narrativen Interviews stützt sich auf eine Reihe von Annahmen über das Funktionieren von Erinnerung und die Darstellung eigener Erlebnisse. Die Grundlage der Methode, die v.a. durch Fritz Schütze (1970/ 80iger Jahre) gelegt wurde, wird unter dem Titel Erzähltheorie überliefert. Sie bezieht sich auf die Reproduktion eigener Erlebnisse in Form von Erzählungen, also ad hoc formulierten Narrationen für anwesende Zuhörende und sie stützt sich auf breit angelegte soziolinguistische Untersuchungen.
Erzählen wird als verbale Technik der Erfahrungsrekapitulation aufgefasst; meist wird in chronologisch stimmiger Reihenfolge erzählt. Dabei spielt der Kontext eine wichtige Rolle: Erzählende Personen reagieren situativ auf ein Gegenüber, auf die Stimuli, die das Vis-à-vis anbietet und auf die räumliche Umgebung. Darin liegt auch eine Verfälschungsgefahr: Sind die gestellten Fragen Horizont eingrenzend, schmälert dies möglicherweise den Erzählfluss. Stehen konkrete Erwartungen (Hypothesen?) der Interviewenden deutlich im Raum, orientieren sich erzählende Personen leicht mal an solchen verfälschenden «Wegweisern».
Die von Fritz Schütze entwickelten und von Neuropsychologen vertieften Theorien über Aufschichtung von Erlebnissen im Gedächtnis und das Funktionieren des menschlichen Erinnerungsvermögens gehen davon aus, dass persönliche Erlebnisse sich in der Form «kognitiver Figuren» im Gedächtnis niederschlagen, die beim spontanen Erzählen reproduziert werden: Der/die Handlungsträger:in ist notwendigerweise eine beteiligte Person, meist handlungstreibend, zuweilen Beobachter:in. Situationen sind einzelne, besonders bedeutsame Prozessabschnitte, oft Höhe- oder Wendepunkte des Geschehens, die herausstechen. Das gesamte Erlebnis oder Geschehen erhält im Gedächtnis meist einen «Titel» oder ein Schlagwort.
Persönliche Narrationen bestehen meist aus vier Elementen, einzeln oder in Kombination, nämlich aus Erfolgs-, Leidens-, Scheiterns- oder Rechtfertigungsgeschichten.
Systematische Auswertungen zeigen, dass Narrationen von der erzählenden Person weniger redigiert oder im Nachhinein «bearbeitet» werden als Argumentationen und Beschreibungen; letztere unterbrechen oft die Chronologie der Ereignisse. (Grund dafür ist wohl, dass Argumentieren und Beschreiben eine kleine Distanzierung vom Erleben voraussetzen.)
In der ad hoc Erzählung mit einem direkten Gegenüber wirken
- Detaillierungszwang (die Geschichte muss nachvollziehbar sein)
- Gestaltschliessungszwang (die Geschichte muss vollständig sein und auch über Unangenehmes hinweg zu Ende geführt werden)
- Relevanz- und Kondensierungszwang (die Geschichte muss über zahllose Episoden hinweg konsistent bleiben und sich auf Wesentliches konzentrieren).
Im narrativen Interview verfolgen die Forschenden eine doppelte Strategie: Einerseits wird eine fast natürliche Gesprächssituation hergestellt, in der eine Auskunftsperson über eigene Erfahrungen berichtet. Zugleich ist die Interviewsituation überhaupt nicht alltäglich, weil es nicht um eine Gespräch mit abwechselnden Interventionen geht. Die Verteilung der Sprecherrolle ist grundsätzlich asymmetrisch: Eine Seite spricht, die andere hört weitgehend nur schweigend zu. Die Auskunftsperson soll möglichst vollständig und ungestört ihre kognitiven Figuren reproduzieren. Anwesenheit und aufmerksames Zuhören der interviewenden Person sind aber unerlässlich, denn sie aktivieren die drei oben genannten Zugzwänge des Erzählens.
Dieser Text übernimmt in gekürzter Form das Kapitel von Ivonne Küsters im Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, herausgegeben von Nina Baur und Jörg Blasius im Springer-Verlag, Wiesbaden 2014
Ema/2024
Fragetypen
Die wichtigsten systemischen Fragetypen sind anschlussfähig an Kurt Lewins Feldtheorie
Merkmale aufschlussreicher Fragen
- regen zu Antworten mit relevanten Informationen an
- sind öffnend, geben der befragten Person gedanklichen Raum; holen nicht vorfabrizierte Aussagen ab
- suggerieren keine Antwort; verraten keine Erwartungen
- enthalten keine versteckten Botschaften; sind ohne Wertungen
- lassen sich nicht mir Ja oder Nein beantworten, laden zum Erzählen ein
- beziehen sich auf konkrete Situationen, liefern Anschauung
- werden in einer Haltung von Gelassenheit, Wohlwollen und Interesse gestellt.
Lineale Fragen
Klären das Thema, die Situation, machen «ortskundig», ordnen Fakten und Tatbestände. Sie lassen die befragte Person ihr «Terrain» genauer anschauen und schildern.
Beispiele: Welche Aus- und Weiterbildungen haben Sie absolviert? Wann haben Sie diese Aufgabe übernommen? Wer gab Ihnen den ersten Auftrag?
Strategische Fragen
Weisen auf mögliches Vorgehen, Methoden der Einflussnahme, Wege der Lösungssuche, Werthaltungen oder Ressourcen hin; können (in positiver oder störender Weise) provokant wirken. Ein spezieller Typus strategischer Fragen sind die hypothetischen.
Beispiele: Wie würden Sie Ihre Zeit nutzen, wenn Sie diese Aufgaben nicht hätten? Welche Art Zusatzqualifizierung würden Sie gern besuchen oder erfinden? Was täten Sie, wenn eine Gönnerin Ihnen 100 000 Franken zur Verfügung stellte?
Hypothetische Frage: Angenommen, sie wären nochmals 50: Wie würden Sie Ihre Berufslaufbahn gestalten?
Zirkuläre Fragen
Laden zum Perspektivenwechsel ein, beleuchten den Kontext, loten situatives Verhalten und Beziehungs-geflechte, bzw. Beziehungsgestaltung aus; zeigen Auswirkungen von Verhaltensmustern und Grundorientierungen; erweitern das Spektrum von Handlungsmöglichkeiten und Einschätzungen; beziehen Dritte ein.
Beispiele: Welche Ihrer aktuellen Arbeitserfahrungen interessieren Ihre Partnerin am meisten? Wer würde zuerst reklamieren, wenn Sie weniger zuverlässig wären? Was sagt Ihre Kollegin über das Besondere ihres Engagements? Was an Ihrer jetzigen Arbeit stört Ihre Kinder?
Reflexive Fragen
Geben Aufschluss über die Vorstellungswelt und Werte, zeigen Präferenzen, Kreativität und Potentiale für Veränderungen; helfen (alternative) Szenarien für die Zukunft zu entwickeln; fördern Verständnis für verschiedene standortgebundene Wahrnehmungen von Realität; laden zum Spiel mit möglichen Wirklichkeiten ein.
Beispiele: Welchen Stellenwert hat die Höhe des Lohnes für Sie? Haben Sie mit 40 gedacht, dass Sie jetzt so unterwegs sind? In welchen Situationen der letzten Jahre haben Sie sich ausgesprochen kompetent erlebt? Welche anderen Chancen hätten Sie gehabt, wären Sie zehn Jahre früher aus dem Job ausgestiegen? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie dieses Arbeitsinstrument aus der Hand geben?
Literatur: Karl Tomm. Die Fragen des Beobachters. Carl Auer Verlag, Heidelberg 1994
2023/ema