Kurt Lewin – Feldtheorie
Theoretische Fundierung des Projekts: Feldtheorie von Kurt Lewin
Wie erfassen und verstehen wir Personen in einem bestimmten Lebensalter?
Eine abschliessende Antwort auf die Frage, wie Menschen diejenigen geworden sind, denen wir konkret begegnen, können Wissenschaften wie Biologie, Psychologie, Soziologie, Sozial-psychologie nicht geben; die Einflussgrössen und Wechselwirkungen sind zu komplex.
Doch ihre Theorien führen uns näher an eine Antwort heran.
So öffnet und erleichtert etwa die Feldtheorie von Kurt Lewin den Zugang und das Verständnis von Personen, die im reifen Alter engagiert tätig sind. Alle sind über 70 Jahre alt, haben folglich entschieden, das offizielle Pensionierungsalter wenig zu beachten; sie grenzen sich gegenüber einem Standard ab. Um die subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen dieser Personen zu erfassen, fordert Kurt Lewins Theorie die Annäherung über den Kontext, also die Wahrnehmung des sozialen Milieus und der sozialen Beziehungen, der edukativen, wirtschaftlichen, geografischen und gesellschaftlichen Strukturen und der relevanten zeitgeschichtlichen Themen. Personen entwickeln sich lebenslänglich in der Auseinander-setzung mit der Welt und in systemischen Wechselwirkungen; ohne Einbettung in den jeweiligen Kontext und Erfahrungshorizont bleiben Merkmale und Lernschritte nicht nachvollziehbar.
Kurt Lewin, 1890 -1947, war zunächst in Deutschland an der Entwicklung der Gestalttheorie beteiligt und formulierte auf dieser Grundlage dank weiterer Beobachtungen und Experimente später in den USA seine Feldtheorie. Wobei der Begriff Missverständnisse provozieren kann, handelt es sich doch um kein abschliessend klar definiertes Theoriegebäude, vielmehr um eine wissenschaftliche Arbeitsmethode*, die schrittweise ausformuliert wurde. Die Feldtheorie ist eine Heuristik, die die Interdependenz dreier Variabler ins Visier nimmt, nämlich
– erstens die erlernten/erworbenen Eigenschaften einer Person
– zweitens ihr situativ beobachtbares Verhalten oder ihren Handlungen
– drittens den Kontext, in dem sie sich bewegt.
Persönliche Handlungen sind nur im jeweiligen Kontext und aus subjektiver Perspektive annäherungsweise zu verstehen. Der Anspruch, Verhalten und Person (auch deren Entwicklung auf der Zeitachse) als Funktion der Umwelt zu verstehen, fächert sich für das Subjekt wie für die Beobachtenden in hohe Komplexität aus.
Lewin hat seine Interdependenztheorie auch mathematisch abgebildet und entsprechende Modelle entwickelt, die im Zusammenhang mit dem Projekt «ältertätig» aber keine Rolle spielen.)
Was gehört zum Kontext? Es ist gemäss Lewin ein funktional gegliederter Lebensraum in dynamischem Wandel, in dem sich Akteure und Bedeutungen rasch verändern. Denken wir an das dritte Kind, ein Mädchen, einer gewerblichen Unternehmerfamilie in einem Dorf von 900 Einwohnern in den 1960iger Jahren, das neun Jahre seiner Schulzeit geografisch stabil absolviert und kirchlich eng eingebunden ist. Zeitgeschichte, wirtschaftliche Rahmenbedingungen, politische Verhältnisse, Zugehörigkeiten, Stellung und Kräfteverhältnisse in Schulklassen, Grossfamilie und Bezugsgruppen beeinflussen Handlungsmuster, Urteile und Wertsetzungen. Und dann wechselt die junge Frau für ein Austauschjahr in den Mittleren Westen der USA…
Dabei ist nichts determiniert oder berechenbar: Gleiche Ausgangssituationen führen bei verschiedenen Personen, etwa Geschwistern, zu unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen, Handlungen und Lernschritten, weil jede eine spezifische
– Position im sozialen Gefüge
– Wahrnehmungsperspektive
– Absicht
– Lerngeschichte
– emotionale Bewertung usw.
einbringt.
Menschen sind realen Situationen überdies nicht einfach ausgesetzt, sie können das physische Feld beeinflussen oder verlassen. Oder – auch eine Distanznahme - in die Welt der Phantasie, der Fiktion, der Wünsche und Träume wegtauchen, wo kaum Widerstände erlebbar sind.
Personen wählen, wie sie sich zum Kontext in konkreten Situationen verhalten; verschiedenste Gründe (Tageszeit, Stimmung, Gesundheitszustand, Lerneffekte, Bedürfnis nach Abwechslung usw.) bewegen sie zum Variieren oder eben nicht.
Im Alltag formulieren wir ständig – bewusst oder vorbewusst – Hypothesen über nächste Aktionen der Personen in unserer Umgebung; diese subjektiven Vermutungen sind unerlässlich für rasches Handeln und damit für unsere Alltagstüchtigkeit. Bei der Erforschung von Tätigkeiten und deren Bedeutung im narrativen Interview bescheren solche alltagstheoretischen Hypothesen dagegen grosse Schwierigkeiten. Was in der Beobachterperspektive der Interviewenden zum Kontext gehört, hat in der Binnenperspektiven handelnder Personen oft eine andere Bedeutung und eine für die interviewende Person überraschende Relevanz. Also gehört es zur Aufgabe des/der Befrager:in, sich vorurteilslos und mit offenen Ohren auf die Alltagstheorien der Auskunftgebenden einzulassen. Die 73jährige Putzfrau zum Beispiel steht in langjährigen engen Beziehungen zu den Haushalten in ihrem Portfolio; sie ist zusammen mit ihrem Ehemann nach eigener Aussage finanziell gut gebettet und preist das Vorbild ihrer Mutter, die noch mit 85 Jahren im Dorfladen tätig war. Sie arbeitet vielleicht auch, aber nicht in erster Linie, weil sie Geld verdienen will oder muss.
März 2024/ ema
*Literatur: Lewin, Kurt. Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften. Faksimile der Erstausgabe von 1963. Hans Huber, Bern 201
Hartmut Rosa – Arbeit
In der Arbeit finden wir die Welt
Über die Arbeit fühlen sich Menschen existenziell mit der Gesellschaft verbunden. Denn Menschen brauchen und suchen nach einem Sinn für ihr Dasein und ihr Handeln, damit ihre Existenz nicht spurlos vorübergeht, nicht bedeutungslos bleibt.
Es stimmt schon: Auch wenn wir uns selbst und einander oft einreden, von einem Leben ohne Arbeit zu träumen, gibt es ziemlich stabile Hinweise darauf, dass sich Menschen in unserer Gesellschaft in fast allen Alters- und Lebenslagen auch unabhängig von der Einkommensfrage weit stärker als vor der Arbeit davor fürchten, keine Arbeit zu haben, die Arbeit zu verlieren. Daher ist die Aussicht auf eine digitale Gesellschaft, in der Roboter und Computer alle Arbeit erledigen und wir den ganzen Tag «tun können, was wir wollen», für die Mehrheit der Menschen eher ein Schreckgespenst als eine Verheissung. Die Soziologie wundert sich seit langem darüber, warum weitere Arbeitszeitverkürzungen für viele Arbeitnehmende selbst bei gutem Lohnausgleich unattraktiv erscheinen. In aller Regel wird das dann mit ökonomischer Rationalität erklärt: Die Arbeit ist die Quelle von Einkommen, Ansehen und sozialer Sicherheit zum Beispiel auch bei Krankheit und im Alter und so weiter. Ich bin jedoch zutiefst davon überzeugt, dass diese Erklärung gravierend zu kurz greift, wenn man verstehen will, welche individuelle und kollektive Bedeutung Berufsarbeit für moderne wie für spätmoderne Menschen hat.
Arbeit als zentrale Resonanzsphäre
Nach meiner – an diesem Punkt durchaus auch an Marx anschliessenden – Überzeugung lässt sich das menschliche Wesen nur in seiner Bezogenheit auf eine ihm stets gegebene, ihm aber auch stets gegenüberstehende und sich widersetzende Welt verstehen. Die menschliche Natur bildet sich individuell wie kollektiv heraus durch die Auseinandersetzung mit einer Welt, die uns immer auch als stoffliche und als widerständige gegeben ist. Arbeit ist daher ein Grundmodus, vielleicht der Grundmodus unserer Weltbeziehung: Wir werden zu empfindenden, denkenden, hoffenden, planenden Subjekten dadurch und darin, dass wir uns an Welt abarbeiten, dass wir eine Stoffprovinz bearbeiten und dabei umformen.
Diese Stoffprovinz kann der Teig für die Bäckerin sein, die Frisur beziehungsweise das Haar für den Friseur, die Pflanzen für die Gärtnerin, die Kinder für den Lehrer, die Organe für die Ärztin, der Text für den Journalisten oder Wissenschafter oder der Programmcode für die Programmiererin, der Lastwagen und die Fracht für den Fernfahrer. Indem wir einem widerständigen und teilweise unverfügbaren Weltausschnitt gegenüberstehen, ihn aber auch bearbeiten und beherrschen lernen, erfahren wir uns als selbstwirksam in die Welt gestellt, und im Wirken und Leiden an der Welt formen und gestalten wir unser Selbst in seinen Fähigkeiten, aber auch in seinen Empfindungen, Hoffnungen und Sehnsüchten.
Dass diese Form der Weltbeziehung heute nur als lohnabhängige Berufsarbeit legitimiert und validiert ist, erweist sich dabei natürlich als hochproblematisch, und dieses Problem wird noch einmal gravierend verschärft durch den Umstand, dass die abhängig Beschäftigten Form und Inhalt des Arbeitsprozesses in aller Regel kaum oder gar nicht zu gestalten vermögen, weil sie durch die Logik der Kapitalverwertung und die daraus hervorgehenden Steigerungsimperative bestimmt werden.
Dennoch bildet Arbeit, das ist meine These, eine zentrale Resonanzsphäre für den Menschen schlechthin, und für den modernen Menschen a fortiori. Denn tatsächlich bildet insbesondere in der modernen Gesellschaft Arbeit nicht nur eine Resonanzachse, sondern sie stellt eine zentrale Resonanzquelle dar, in der sich eine Vielzahl von Resonanzachsen wie in einem Brennglas bündeln. Wir begegnen nämlich nicht nur der stofflich-materiellen, widerständigen Welt, an der wir unsere Selbstwirksamkeit entfalten, sondern immer auch anderen Menschen als Kollegen und/oder als Kunden beziehungsweise Klienten, und die überwältigende Mehrzahl von Arbeitenden entwickelt über die Zeit hinweg deshalb intensive soziale Resonanzbeziehungen am Arbeitsplatz: Die Kollegen sind uns nicht gleichgültig, sie berühren uns in ihrem Handeln und Leiden, und wir erfahren uns als selbstwirksam verbunden, wenn wir feststellen, dass wir auch ihnen etwas bedeuten.
Und so ist es nicht verwunderlich, wenn etwa Arlie Hochschild konstatiert, dass das emotionale Attachment, das Zugehörigkeitsgefühl am Arbeitsplatz inzwischen oft höher ist als in der Familie. Moderne Arbeitswelten sind gelegentlich dabei, zur zentralen Lebenssphäre der Subjekte zu werden, aber selbst und manchmal gerade dort, wo die Arbeitsbedingungen schrecklich sind, entwickeln sich Solidaritätsbeziehungen. Damit nicht genug: Gerade weil moderne Arbeitssubjekte im Arbeitsprozess zunehmend als «ganze Subjekte» gefordert sind, weil sie sich mit allem, was sie haben, einbringen wollen und müssen und auch als ganze Person auf dem Spiel stehen, ist die Arbeitsstelle für viele darüber hinaus der Ort, an dem sie sich selbst fühlen und vor allem: körperlich ebenso wie psychisch als wirksam, bedeutsam, gesehen und zugehörig erfahren, so dass die Arbeit zur Resonanzachse für das Selbst werden kann: Bei und in der Arbeit können wir mit uns selbst in Resonanz treten.
Von der digitalen Allmacht zur existenziellen Ohnmacht ist es nur ein winziger Schritt, und ebendieser Schritt entzieht sich unserer Kontrolle, ist unverfügbar.
Schliesslich aber, und das scheint mir von grösster Bedeutung zu sein: Über ihre Arbeit fühlen sich Menschen auch existenziell oder vertikal mit dem Ganzen der Gesellschaft, der Welt oder des Lebens verbunden. Ich nenne das die vertikale oder existenzielle Resonanzachse: Menschen brauchen und suchen nach einer Bestätigung oder einem Sinn dafür, dass sie mit dem Urgrund der Existenz und zugleich mit der Totalität des Daseins verbunden sind, und zwar so verbunden, dass ihr Dasein und ihr Handeln, ihre Existenz nicht spurlos vorübergeht, nicht wirkungslos und bedeutungslos bleibt. Menschen müssen sich einerseits als wirksam und andererseits als «gemeint», als «adressiert» erfahren können. In der Berufsarbeit können sich Menschen ihres resonanten In-der-Welt-Seins auf unmittelbar leiblich-materielle, auf sinnlich erfahrbare Weise vergewissern: In ihrem Arbeiten wirken sie auf die Welt ein und transformieren sie – und sei es «nur» das Regal im Supermarktlager –, und im Lohn- oder Gehaltszettel erfahren sie die nährende Antwort. Eben dieser Nexus aus Selbstwirksamkeit und Affizierung wird zerstört, wenn eine Form der Sozialhilfe das Arbeitseinkommen ersetzt. Dann ist der «nährende Draht» zur Welt kein Resonanzdraht mehr, weil er von existenzieller Selbstunwirksamkeit zeugt. Menschen eben dies zuzumuten, weil ihre Arbeitsstelle wegrationalisiert wird, grenzt in diesem Sinne an eine Menschenrechtsverletzung und sogar an Körperverletzung.
Selbstwirksamkeit
In einer im Wesentlichen eben doch säkularen, postmetaphysischen Welt, in der weder die Religion noch die Politik es zu vermögen scheinen, mächtige vertikale Resonanzachsen dieses Typs zu erzeugen, welche den Menschen einen gleichsam praktischen, tätigen, alltäglichen, und ja: physischen, unmittelbar spürbaren Sinn ihres resonanten Verbundenseins mit der Welt zu geben vermöchten, trägt die Arbeit für viele die ganze existenzielle Resonanzlast. Wenn wir arbeiten gehen, erfüllen wir eine Funktion im globalen Ganzen der Gesellschaft. Wir stehen in einem Antwortverhältnis mit der Welt. Diese Arbeit und diese Arbeitsstelle stehen am Schnittpunkt sozialer wie räumlicher Interaktionsketten: Sie sind das Ergebnis einer unübersehbaren Vielzahl weitverzweigter Prozessketten, und sie beeinflussen viele weitere. Und sie stehen im Gravitationspunkt der historischen Entwicklung: Jeder Beruf ist eingebettet in eine Geschichte der Profession, oder des Handwerks, oder des Unternehmens, oder der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaftshistorie und so weiter. Und allen Transformationen und vielleicht auch Digitalisierungen zum Trotz wird diese Geschichte auch weitergehen. In diesem Sinne ist es die Arbeit, welche uns auf resonante, selbstwirksame Weise in die Zeit, in den Raum, in die Gesellschaft, ja in den Kosmos gestellt sein lässt.
Was machen nun Digitalisierungsprozesse mit der Arbeit? Sicher gibt es darauf keine eineindeutige Antwort, sondern viele. Sie verändern gewiss die Art und Weise, wie wir mit der Welt in allen genannten Dimensionen verbunden sind. Ich möchte mich hier auf den Aspekt der Selbstwirksamkeit konzentrieren, denn er scheint mir der wichtigste, der am meisten unterschätzte und doch der folgenreichste zu sein. Selbstwirksamkeit heisst für mich – etwas anders als der Begriff in der Psychologie verwendet wird – nicht, dass wir die Kontrolle über die Ergebnisse und Folgen unseres Handelns haben, sondern, dass wir uns in unserem Handeln als in einem Antwortverhältnis zur Welt erleben: Die Welt (die ich bearbeite) reagiert auf meine Tätigkeit, verändert sich dadurch, bleibt widerständig, aber erreichbar. Mein Handeln und Erleben und das Handeln oder Wirken des Gegenübers formen sich wechselseitig, ohne füreinander vollständig verfügbar zu werden.
Menschen erfahren sich beispielsweise als unmittelbar leiblich und intentional wirksam, wenn sie Teig kneten, einen Hammer schwingen, Rasen mähen oder Fenster putzen; auch wenn wir einen Text schreiben oder einen Programmcode erstellen oder ein krankes Organ operieren oder eine Windel wechseln. Digitalisierungsprozesse verändern nun in vielen Kontexten die Art unserer Selbstwirksamkeit auf entscheidende Weise: Einerseits inflationieren sie unsere Selbstwirksamkeit in gewaltigem Masse. Mit einem einzigen Klick können wir Dinge tun, für die wir früher Tage gebraucht hätten. Zum Beispiel Tausenden von Menschen eine Nachricht senden. Mit einem Klick können wir Türen öffnen und schliessen, Beleuchtungsanlagen und Kühlhäuser an- und ausschalten, Rasenmäherroboter in Gang setzen und so fort. Von einem einzigen Steuerzentrum aus, mit ein paar Bewegungen an einem Bildschirm, kann etwa ein moderner Landwirt Hunderte Kühe melken, Ernten einfahren, Äcker umpflügen.
Verletzlichkeit
Aber wenn irgendwo ein Mikrochip ausfällt, kann diese Allmacht im Handumdrehen in Ohnmacht umschlagen: Dann ist er vielleicht in seinem Steuerzentrum gefangen, weil die Türe nicht mehr aufgeht, und von Hand melken oder pflügen ist nicht mehr möglich. Die inflationierte Selbstwirksamkeit ist also vielfach vermittelt und eben deshalb extrem prekär: Von der Allmacht im Daumen zur existenziellen Ohnmacht ist es nur ein winziger Schritt, und ebendieser Schritt entzieht sich unserer Kontrolle, ist unverfügbar. Damit wird aus meiner Sicht unser Weltverhältnis doppelt prekär: Wir pflügen nicht mit unserer Körperkraft, wir können nicht Hammer und Zange schwingen, wenn der Motor ausfällt, wir können nicht einmal den Nachbarn oder den Handwerker zu Hilfe holen, wenn das Relais defekt ist, sondern wir müssen die computerisierte Blackbox in ein weit entferntes Werk einsenden.
In unserem unmittelbaren, selbsttätigen, physischen Weltverhältnis verlieren wir fortwährend an Selbstwirksamkeit. Und zu dieser technischen Prekarisierung kommt nun im Zeitalter der Digitalisierung auch eine extreme soziale Vulnerabilität: Wenn der Beruf und die Arbeitsstelle unsere Verortung im Welt- und Gesellschaftsganzen angeben, den Ankerpunkt unserer Resonanzachsen bilden, dann impliziert der Umstand, dass wir jederzeit ersetzbar sind und niemals sicher sein können, wie lange dieser Ankerpunkt erhalten und stabil bleibt, eine Gefährdung unseres Weltverhältnisses im Ganzen. Auch hohe und lange ausbezahlte Arbeitslosengelder vermögen dagegen nur wenig auszurichten. Es würde mich nicht wundern, wenn die politische Wut, die sich allenthalben und allerorten beobachten lässt, eben hierin eine ihrer tiefsten Wurzeln hätte.
Hartmut Rosa, NZZ, 16.09.2019
Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt. 2016 publizierte er «Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung». Der Beitrag ist sein Referat am NZZ-Podium Europa vom 11. September in Berlin zum Thema «Arbeit».