Wer forscht, definiert – speziell in den Humanwissenschaften – die Wahrnehmung seines Gegenstandes mit. Die Suche nach neuen Erkenntnissen und das Entdeckte wirken aber auch auf die forschende Person zurück. Darüber nachzudenken, ist ein Merkmal von Qualität.
Reflexion
Forschende und Forschungsgegenstand beeinflussen einander
Was und wen wir auch erforschen: Wir tragen stets unsere eigenen Erfahrungen, Vorurteile, Interessen und Wahrnehmungsmuster in die Forschungssituation hinein und beeinflussen die Sammlung von Informationen.
Gleichzeitig verändern neue Theorien, Konzepte, Begegnungen und Erkenntnisse – vermittelt im Rahmen eines wissenschaftlichen Projektes – unser Weltbild und Verhalten. Diesen Wechselbeziehungen gehen die Bürgerwissenschafter:innen von «ältertätig» in mehreren Nachdenkrunden – einzeln und im Team – auf den Grund.
Zentrale Fragen
- Was bewegt mich zum Mitwirken in diesem Projekt und wie wirkt sich das auf meine praktische Forschungstätigkeit aus?
- Wie verfolge ich meine Ziele in diesem Projekt?
- Wie gehe ich mit meinen Kolleg:innen und den auskunftgebenden Personen um?
- Wie fühle ich mich als Citizen Scientist?
- Was gewinne ich dabei für mich selbst?
- Was habe ich bisher dazugelernt?
1. Reflexionsrunde – Bestätigung der eigenen Identität
Was hat das ganze Projekt mit mir selbst und mit meiner aktuellen Lebenssituation zu tun?
Vier Fünftel der Forschenden bewegen sich im Rentenalter; die Jüngeren wollen sich sorgfältig darauf vorbereiten und vergleichen die Handlungsmuster der Mitforschenden wie der Informationspersonen mit Beispielen in ihrer näheren sozialen Umgebung.
Die Diskussionen nehmen Bezug auf zwei unterschiedliche Situationen für die Zeit nach 65: Selbständige können weitermachen wie bisher und ihre Expertise erweitern; Angestellte müssen sich meist neu erfinden. Für Personen, die in leitender Position tätig waren, ist die Suche nach einem neuen Platz in der Tätigkeitsgesellschaft anspruchsvoll. Das Projekt hilft bei dieser Verortung. Oder wird als Chance erlebt, «nochmals Gas zu geben».
Der junge Projektassistent berichtet über erfolgte Veränderungen in seinem Lebensentwurf sowie – kognitiv - im Bild vom Älterwerden: Er entdeckt die lange Dauer und die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten auf der Zeitachse.
Identität und Bestätigung:
Die Mitwirkung im Forschungsprojekt verschafft eine soziale Rolle; man erwähnt sie zum Beispiel beim Vorstellen in einer Bar. Sie stärkt das Gefühl von Lebendigsein und von Bedeutung. Mittun bestätigt das Selbstbild als aktive Zeitgenoss:in; man will interessiert und aktuell im Austausch sein und die Verhältnisse mitgestalten. Die Projektgruppe bestätigt in vielfältiger Weise die eigene Identitätsdefinition.
Das persönliche Leistungspotential wird überprüft, im Bewältigen von Anforderungen wie beim Beobachten von Auskunftspersonen ü70.
Bildung und Entwicklung:
Anspruchsvolle Themen zu bearbeiten und zu formulieren oder wissenschaftlich fundierte Texte und Konzepte zu assimilieren, stimuliert das Denken und Erleben. Mitwirken bedeutet, eigene Ängste vor Versagen oder Ungenügen zu überwinden, und der Effekt ist befreiend. Expertise zu Themen der eigenen biografischen Situation aufzubauen, öffnet den Horizont über die eigene Lebensbewältigung hinaus.
Für viele ist das mediale Gestalten mit Tonaufnahmen, Filmen und die erweiterte Nutzung des Computers Neuland und Kompetenzerweiterung.
Selbstreflexion, Orientierung und Alltaggestaltung:
Die Projektarbeit – in der Projektgruppe wie in Interviewpartnerschaften und Teams – vermittelt Struktur. Nachdenken über und Ausbalancieren von Tätigsein und Freizeit ist für viele ein aktuell drängendes Thema. Man vergleicht sich gern mit andern im Projekt und prüft Rezepte für gutes Älterwerden.
Soziale Einbettung:
Neue Beziehungen zu spannenden Menschen zu knüpfen, wird im Zug des Älterwerdens nicht einfacher und ist deshalb besonders attraktiv. Die verbindliche Eingliederung in die Forschenden-gruppe mit dem gemeinsamen Erkenntnisziel und der intensive Austausch mit den Interviewpartner:innen sind wichtige Erfahrungsgewinne.
Durch die ehrenamtliche Tätigkeit, so mehrere Stimmen, möchten Forschende der Gesellschaft etwas zurückgeben.
Was löst das Interviewen und die Auseinandersetzung mit «meinen» befragten Personen in mir aus?
Der Einblick in andere Lebenswelten regt zum Vergleich mit der eigenen Situation und zum Nachdenken über die eigenen Weichenstellungen und die Laufbahngestaltung an. Niemand erzählt von fundamentalen Neuorientierungen.
Erhöht wurden Aufmerksamkeit und Meinungsbildung für die Rahmenbedingungen Älterer, zum Beispiel AHV, Pensionskassen, Steuern, Wohnsituation.
Beglückend sind die intensiven Begegnungen mit sozial aktiven, positiven, differenziert denkenden Älteren; sie helfen im Umgang mit Miesepetern.
Wie entwickelt sich meine Motivation und mein Interesse im Verlauf des Projekts?
Mitglied in der Forschungsgruppe zu sein, weckt und stärkt Interesse: Der Austausch mit den tollen Kolleg:innen des Projekts regt an und verbindet. Die Mitgestaltungsmöglichkeiten im Projekt und die Wertschätzung durch Kolleg:innen und Projektleitung intensivieren das Engagement.
Die Neugier auf andere Personen und «Welten» regte zur Übernahme von Verantwortung an; mit den konkreten Interviews entstand nach der Vorbereitungsphase ein kräftiger Motivationsschub.
Bei Schritten, die einem zuwider sind - etwa dem Transkribieren des Interviews – muss man über den eigenen Schatten springen; hinterher ist die Befriedigung umso grösser.
Es passiert eine Art Politisierung für die Art und Weise, wie die Schweiz mit dem demografischen Wandel umgeht und wie sie das gesellschaftliche Potential nutzen könnte.
Die gesellschaftspolitische Motivation (samt kritischer Reflexion) fürs Forschungsthema wächst kontinuierlich: Länger weiterzuarbeiten sollte eine selbstverständliche Option werden. Allerdings ohne jüngeren Personen den Aufstieg zu verbauen.
Wenn in der Schweiz eine Million Menschen ü60 lebt, so eine Aussage, ist das ein Beitragspotential, das, falls nicht abgeholt, zum Frustpotential mutiert.
Die Aussicht auf den Transfer von Ergebnissen an Verbände, Arbeitgeber, Politik, Verbände befeuert; man will Einfluss nehmen.
Grundlage: Protokolle der Gruppendiskussionen vom Juni 2024 zu offenen Fragen
Ema/ Juli 2024